Ohr und Metronom im Äther

1. Grenze Ohr

"Im Ohr liegen die Aufnahmeorgane für 2 Sinnesfunktionen. Das Hörorgan und das Gleichgewichtsorgan. Im Hörorgan werden die Schallwellen der äußeren Luft aufgenommen. Sie gelangen über den äußeren Gehörgang zum Trommelfell und versetzen dieses in Schwingungen. Die Schwingungen werden von den Gehörknöchelchen im Mittelohr auf das Innenohr übertragen und dort in der Schnecke in Nervenimpulse umgewandelt.
Diese werden über den Hörnerv zum Gehirn weitergeleitet und nun als Töne oder Geräusche empfunden. - Das Gleichgewichtsorgan (Vestibularapparat) liegt im inneren Ohr(Labyrinth) und besteht aus dem Säckchen und den 3 Bogengängen. Es signalisiert alle Bewegungen des Kopfes dem Zentralnervensystem und Iöst dadurch entsprechende Ausgleichsbewegungen aus. Das Gleichgewichtsorgan dient der Orientierung im Raum."

2. Verschiebung der Grenze mittels Radio-Ohr

Zum Verrücken der Grenze ist Technik notwendig. Der Preis der Grenzverschiebung durch den Simulanten Ohr ist das Manipulieren oder Aufheben des Raumes. Unser normaler Alltag ist maßgeblich räumlich bestimmt. Was bedeutet also der Verlust des Raumes als Folge der Verschiebung der Hörgrenze?
Es scheint, als würde die Zeit extrem wichtig, um den Verlust des Raumes zu kompensieren, um die Teilnehmer an den Kabelenden und den Antennen kommunikationsfähig zu machen. Auch die Vermutung, erst die genaue Zeit könnte den übertragenen Informationen und dem Werkzeug "Wireless" selbst einen Zweck geben, liegt nahe.

3. das Metronom ermöglicht Kommunikation

Am Anfang eine zeitgenössische Darstellung des fast kultischen Ablaufes des Zeitzeichens aus Nauen um 1920:
"Um 12 Uhr 54 Minuten 55 Sekunden wird durch ein genaues Uhrwerk in Nauen der Vorsignalgeber ausgelöst.
[...]Um 12 Uhr 56 Minuten 55 Sekunden trifft der regelnde Stromstoß von der Deutschen Seewarte in Hamburg ein.
[...]Es wird zunächst 50 Sekunden lang x gegeben. Alsdann folgen drei Striche (o), deren letzter genau am Ende der 57 Minute schließt. Während der 58. Minute wird fünfmal n gegeben und und zwar so, daß der Punkt mit jeder zehnten Sekunde erscheint Den Abschluß der Minute bilden wieder drei Striche. Die 59. Minute ist durch fünf g gekennzeichnet und wenn hierauf der letzte der drei Striche endet, ist es genau 1 Uhr nach Mitteleuropäischer Zeit. Darauf folgt das internationale Schlußzeichen, dessen Abgabe zugleich die Richtigkeit der Zeitmeldung bestätigt.
Die ... Zeichenabgabe ist ... in ihrer Wirkung ausgezeichnet, da sie drei Minuten lang die Uhrenvergleichung gestattet ... Die Ansprüche an die Genauigkeit sind außerordentlich groß: die Abweichungen...sind während des Jahrs 1920... nicht großer gewesen als 6/1OO Sekunde."[1] Im modernen Radioprogramm halten sich Rudimente aus der Vor-Radiozeit. Sie strukturieren den Äther streng nach der Uhrzeit.
Das stündliche Zeitzeichen verwandelte sich zu oft grausamen Jingles, zeitlich fixe Wetterberichte, Verkehrshinweise und Nachrichten wiederum sind Erben der Radio-Vorläufer Telegraf und Rundspruch. Das Senden eines Morsespruches war zugleich ein Taktgeben. Zeichen für Zeichen surrte der Empfänger den Takt des Senders nach. ("Tönende Station") Frequenz, Melodie, Rhytmus, Lautstärke, Hall und Schwingungsform- es gibt keine zeitlose Tonkunst, wie es bei der "Gesichts"-Kunst das Bild oder die Plastik gibt.
Die Nationalsozialisten trieben die Metronom-Funktion des Radios auf die Spitze. Alles, was nicht in den Zeittakt des Programms paßte, wurde nun ersetzt durch Reportagen, deren Dauer genormt war, durch sogenannte "Ringsendungen", die an mehreren Orten, zeitlich inenander verschachtelt, live produziert wurden, durch Wunschkonzerte und Eil- und Kampfmeldungen. In dieses Zeitraster paßt genau der neu eingeführte "Sketch" z.B von Wilhelm Bendorf.
Sowohl die Frequenzen im Volksempfänger als auch die obligatorischen Sendetermine waren fix, das Nichtempfangen der Schlüsselsendungen und das Emfangen fremder Frequenzen (also Zeittaktvergehen?!) mit harter Strafe bedroht.
NWDR Hamburg1946: Im härtesten Nachkriegswinter fordern Axel Eggebrecht, Ernst Schnabel und Peter von Zahn die Hörer auf, ihren Tagesablauf zu Papier zu bringen. Zehntausende Zuschriften werden ausgewertet und zur Sendung "Der 29. Januar" verdichtet. Der Taktgeber wird dem Programm, der künstlerischen Absicht unterworfen. Der Takt bringt eine neue literarische Sprache, neue simultane Erzählweisen, die sich auch auf die Literatur ausbreiten. »Alle Bemühung der neueren Erzähler, die alte Genauigkeit in Schilderung, Zeitablauf, Innenleben zu demolieren, Film, Überschneidungen, Photomontage: natürlich, das alles will auf eine neue Sachlichkeit hinaus, vor allem aber doch auf eine neue Ungenauigkeit, die unerbittlich genug ist, überkommene Genauigkeit zu zerstören. Wir wollen: neue Genauigkeit, neue Ungenauigkeit ... des Erzählend.&laqno;[2]
Was wurde aus diesen Ideen über das Radio-Ohr 40 Jahre später, als der technische Fortschritt die Realisierung in greifbare Nähe brachte? Die Uhr und das Bandzählwerk sind Voraussetzung zum Schneiden, neben der eigentlichen Partitur des Komponisten oder dem Drehbuch des Hörfunkautors.
"Der Aufbruch ..., findet nicht zufällig um 1968 statt. ...Die Aufnahmegeräte sind leichter und damit hochmobil geworden, außerdem unauffällig, was das Einfangen sogenannter O-Töne, ..., weitaus besser als mit den früher unverzichtbaren schwerfälligen Ubertragungswagen ermöglicht. Eine neue Autorengeneration geht auf die Suche nach akustischem Material, das nach selbstgesetzten ästhetischen Kriterien bearbeitet werden soll."[3]

4. Metronom kontra Privatshäre

Der Takt im Radioohr dringt immer weiter in die Privatsphäre vor. Programm wird nicht für individuelle Hörer, sondern für statistisch ermittelte, virtuelle "Meta-Hörer" layoutet. (...)Formatierung ist der Versuch, für erfolgsträchtig gehaltene Inhalte ... so zu konfektionieren, so auf die...Sendefläche zu verteilen ... ,daß das gesamte Programm ein charakteristisches, ...»channel-face&laqno; bekommt." Mit Raumerlebnis haben wir es erst zu tun beim bewußten Zuhören, beim Entschlüsseln der Zeitdifferenz zwischen linkem und rechtem Kanal im Gehör des Hörers. Voraussetzung ist die sinnlich und meßtechnisch erfahrbare Zeit.

5. Bedeutet der zeittakt am ende auch zeitverlust?

Bringt uns der Rundfunk, der auf gleichförmig gefüllten "Sendeflächen" und "Formatierung" basiert, nicht die Aufhebung der Zeit? Programmmacher sprechen von der "Durchlässigkeit" des, einer Festplatte gleich, formatierten Programms für Katastrophenmeldungen usw. Hat das etwa zu bedeuten, daß zwischen diesen "Löchern" nichts im Programm passiert, sondern nur redundantes Rauschen abgestrahlt wird, bis eben zufällig etwas irgendwo im "global village" passiert, das eines Loches würdig ist. Auf jeden Fall aber ist das Programm darauf angelegt, Zeit zu manipulieren, und die Manipulation beispielsweise "...besteht darin ,einen Studiogast zwei Stunden lang zu befragen, nach Möglichkeit live, und zwar so, daß auf Gesprächseinheiten von drei bis maximal fünf Minuten Länge jeweils zwei Musikstücke folgen, die Struktur des Programms also erhalten bleibt...eine andere Möglichkeit besteht darin, die 15 wichtigsten Aspekte eines ergiebigen Themas in Beiträgen von drei bis fünf Minuten abzuhandeln, die sich über eine dreistündige Fläche mit dazu passender Musik verteilen."[4] Es gelingt auf diese Weise, eine ursprünglich zusammenhängende Unterhaltung in kontextlose Bestandteile zu zerlegen, die miteinander im schlechtesten Fall genausowenig zu tun haben wie die Musiktitel zwischen den Gesprächsfetzen. Virilio schreibt in "Ästhetik des Verschwindens" zur solcher Zeitlosigkeit: "Ein Zeuge berichtet, das der Hof der spanischen Bourbonen funktionierte "wie jene deutschen Kirchturmuhren, deren Figuren jeden Tag zur gleichen Stunde erscheinen und verschwinden."Ähnlich...war dem Monarchen stets der gleiche Tagesablauf vorgeschrieben, so daß er das Gefühl bekam, einen einzigen Tag zu erleben."[5] Dieser durch kulturelle Gepflogenheiten herbeigeführte "zeitlose" Zustand zwingt Zeremonienmeister zum Überlegen, zum Kreieren von"events", die wieder einen Zeittakt in das höfische Leben einführen. Virilio fährt fort: "Zur Zeit der ersten Grafen von Valois mündete das Streben nach absolutistischer Macht in große, periodisch einberufene Versammlungen, zu denen alle geladen waren, in Feste und Spiele, in die Erfindung von "Tagen ohnegleichen" ... Genauso hatten die Venezianer den Karneval, der ursprünglich vom Dreikönigstag bis zum Aschermittwoch dauerte, auf sechs Monate verlängert." [5]



1.Michael Bollé "Die Großfunkstation Nauen und ihre Bauten von Hermann Muthesius" Berlin 1996

2.Gerhard Wagner"Walter Benjamin-die Medien der Moderne"Berlin 1992

3.Manfred Jenke "Vom Sendespiel zum Frühstyxradio" in: Hörfunk- Jahrbuch 96/97, Berlin 1997

4.Friedmar Lüke "Formatradio-unsere Zukunft? Amerikanische Konzepte, deutsche Perspektiven" in: ARD-Jahrbuch`94, Hamburg 1994

5.Paul Virilio "Ästhetik des Verschwindens" Berlin 1986