Ätherraum

Mai 1844 eröffnet Morse die erste Telegrafenverbindung

Die Telegrafenleitungen als Vorläufer des kabellosen Netzes orientierten sich an vorhandenen Straßen und Schienwegen und ermöglichten parallel zu den, auf diesen Wegen laufenden konventionellen Transportprozessen den Informationstransport in "Echtzeit". Bilder von parallel zu Eisenbahngleisen hinter dem Horizont verschwindenden Telegrafenleitungen gehören zur Eroberung des amerikanischen Westens dazu. Um 1850 wird der Telegraph vor allemvon Eisenbahngesellschaften, Militär, anderen staatlichen Organen und zur Übertragung von Daten für Börse, Banken und Presse benutzt.
Die Presse erlebt durch die Verbreitung und Vermarktung der telegrafierten Informationen einen unglaublichen Boom. "Nachrichtenagenturen" entstehen, wie AP 1848 in New York, Wolff´s Telegrafenbüro 1849 in Berlin und Reuters 1851 in London. Erst erfolgt die Verkabelung über die Grenzen von US- Bundessaaten hinweg. Kabelverbindungen zwischen europäischen Nationen folgen und 1850 wird ein Kabel von Dover nach Calais gelegt. 1857 entstand eine Telegrafenverbindung zwischen Sardinien und Algerien. Ein Jahr später waren die 3800km nach Amerika überwunden. Die Verbindung stand leider nur kurz und erst 8 Jahre später fand sich ein neuer Investor. 1869 wurde die 18000 km lange Verbindung London- Emden- Berlin- Warschau- Tiflis- Teheran- Kalkutta fertiggestellt. 1872 bekam Australien einen Kabelanschluß an Singapur und 2 Jahre später stand eine Leitung zwischen Lissabon und Rio. 1879 schließlich wurde Afrika von Aden bis Kapstadt durchquert. 1880, also 4 Jahre nach dem Patent für das Bellsche Telefon erfolgte die erste öffentliche Musikübertragung über Kabel von Basel nach Zürich.
Die Frage ist aber, was denn plötzlich über diese Informationswege an Neuigkeiten verbreitet wurde. "Wenige Monate nach Morses erster öffentlichen Vorführung hatten das Lokale und Zeitlose ihre zentrale Stellung in den Zeitungen verloren, Distanz und Tempo hatten sie mit ihrem blendenden Glanz in den Schatten gestellt. Genau einen Tag, nachdem Morse die Funktionstüchtigkeit der Telegrafie unter Beweis gestellt hatte, bediente sich eine Zeitung zum ersten Mal des Telegrafen."1 Der Rundfunk sollte sich zur Jahrhundertwende in einer Position zwischen Funktelegraf und Fernsprecher entwickeln. Vielleicht mußten die Rundfunkbetreiber so lange nach dem Verkaufskonzept suchen, das es möglich machte, immer mehr kontextlose Information direkt über den Äther abzusetzen.

Zur kabellosen Telegrafie.

Schon 1866 gelang es, Signale kabellos zu übertragen. Heinrich Hertz entdeckt und untersucht 1886 bis 1888 die elektromagnetischen Wellen und vor allem deren Ausbreitungseigenschaften. Marconi setzt in kurzer Zeit diese Erkenntnisse in praktische Ergebnisse um und bringt 1894 im elterlichen Garten bei Bolognia eine 3 km entfernte Klingel zum Läuten. Popow entwickelt in St. Petersburg 1895 den "Gewitterankündiger", einen Empfänger für elektromagnetische Wellen, mit dem er ein Jahr später über eine Distanz von 250m die Worte "Heinrich Hertz" überträgt. Marconis Experimente bringt die Antenne von Popow entscheidend weiter. 1897 führt er Demonstrationen für Post und Militär durch. Während Post und Militär auf schriftlichen Empfang per Morsezeichen bestehen, setzt Marconi bis 1905 endgültig den Ersatz der schreibenden Magnetnadel durch Kopfhörer durch. Adolf Slaby wohnte der Bristol- Kanal- Demonstration von Slaby bei und wiederholt das Experiment mit Graf von Arco kurze Zeit später. Er funkte vom Matrosenhaus der Glienicker Brücke zum Turm der Kirche in Sacrow.
Marconi gründet 1897 die Marconi Wireless Telegraph Co. 1899 funkt er das erste Telegramm über den Ärmelkanal. 1899 berichtet er kabellos über eine Hochseeregatta für den "New York Herold". 1900 nimmt Marconis Gesellschaft die erste Großfunkstelle in Poldhu(Cornwall) in Betrieb. Von dort wird im Dezember 1901 die erste Information über den Atlantik, nach Neufundland gefunkt- ein Buchstabe "S"! 3 Jahre später überträgt Otto Nußbaumer in Graz kabellos Sprache und Musik über kurze Distanz.

Die erste Rundfunksendung?

Reginald Fessenden strahlt 1906 von seiner Station Brant Rock bei Boston die "erste Rundfunksendung" über die Distanz von 18km auf 100 kHz aus. Das Experiment hat jedoch nur einen Zuhörer, nämlich die Gegenstation.
Parallel zu dieser spärlichen Suche nach neuen Anwendungen entwickelt sich die drahtlose Telegrafie als technische Grundlage für spätere Rundfunkanwendungen rasant weiter. Großfunkstellen wie die in Poldhu oder Nauen entstehen auf der ganzen Welt. Federführend in Sachen Funktechnik einerseits und Ausfüllung der drahtlosen Verbindungen mit "Informationsmenge" andererseits sind die USA, Großbritannien und Deutschland.
Eine Art "kabellose Realität" als Vermischung von echter Katastrophennachricht an Betroffene und zu verkaufendem Livebericht einer Telegrafiegesellschaft stellte ein Telegramm der "Carpathia" von 1912 dar. Übertragen wurde eine Namensliste der Passagiere der Titanic, die von der "Carpathia" gerettet wurden. Neue Möglichkeiten einer kommerziellen Nutzung kristallisierten sich auch durch solche Vorgänge allmählich heraus.

Weitere Experimente

In Amerika und Europa wurde kurz vor dem 1. Weltkrieg durch die leistungsfähig gewordene Technik langsam mehr experimentiert. 2 Jahre vor dem Titanic- Untergang übertrug die "De Forest Radio Telephone Co." aus der New Yorker Metropolitan Opera "Cavalleria Rusticana" und "Bajazzo"mit E. Caruso. 1913 strahlten Raymond Braillard und Robert Goldschmidt aus dem königlichen Schloß von Laecken regelmäßige öffentliche Programme aus.
Im zweiten Kriegsjahr entwickelt die Royal Airforce eine Radio für Flugzeuge. Der erste Weltkrieg bringt die Minimierung der Funkgeräte und deren Massenfertigung entscheidend voran.
Im Krieg erfolgen weitere Experimente mit Programmformen, vermutlich auch, weil die zahlreichen militärischen Funkgeräte als potentielle Zuhörer eine neue Qualität darstellen. Lee De Forest (der Caruso ausstrahlte) beginnt 1915 nächtliche "Konzerte" von Schelllackplatten auszustrahlen, die er unterbricht, um Werbung zu machen. Ist da nicht schon das erste Programmformat?

Elektrizität im Ätherraum

In Deutschland sind selbst die Versuche institutionalisiert, da das Gesetz über das Telegrafenwesen von1892 dem Staat das Monopol für die telegrafische Nachrichtenbeförderung garantiert. Hans Karl August Bredow sendet ab 1917 an der festgefahrenen Westfront in Frankreich deutsche Hörversuchsprogramme.
In Amerika setzt sich die von den Telefongesellschaften her bekannte Verbindung von Stromerzeugung einerseits und Kommunikationsdienstleistung als Leistung der Tochterfirma andererseits fort. 1918 gründet General Electric die Tochter RCA, die später Radiostationen betreiben und zugleich Radios herstellen wird. 1920 gründet der Stromerzeuger Westinghouse in Pittsbourgh die KDKA-Station.
In Deutschland geht der Rundfunk andere Wege. Ab 1919/20 sendet von Königs Wusterhausen aus der "Wirtschafts- und Presserundspruchdienst der Reichspost" Das, was bisher Enthusiasten, Pioniere, Militärs etc. begeisterte, wurde nun alltägliche Konkurrenz zum Wirtschaftsteil der etablierten Presse. Plötzliche politische und wirtschaftliche Ereignisse gaben nicht nur Zeitungsredaktionen Stoff für Extrablätter, sondern sie kamen sofort einem exklusiven Hörerkreis zu Ohren.
1922 kam der noch spezieller auf Wirtschaftsthemen ausgerichtete "Eildienst für amtliche und private Handelsnachrichten GmbH" hinzu, der fast nur von Banken und größeren Firmen in Anspruch genommen wurde. Ende 1923 sind ca. 2000 Teilnehmer registriert.

Funkausstellungen...

In Erinnerung an Lenins Funkspruch "An Alle!" mit Senderadius von 8000km von 1917 und den "Funkerspuk" von 1918, als revolutionäre Nachrichtensoldaten in Berlin "Wolff`s Telegrafenbüro" besetzten herrschte in Deutschland ein streng überwachtes Abhörverbot für Unbefugte. Dagegen standen die Geschäftsinteressen der Elektrokonzerne Lorenz, AEG, Telefunken, etc. Der internationale Druck war groß. 1922 baute sich ein gewisser George Frost aus Chicago in seinen Ford T ein Radio ein und der Londoner Olympia- Autosalon zeigte einen Daimler mit integriertem Radio der Marconiphone Co. In den USA gab es 564 Radiosender, der Eiffelturm fungierte mit Erfolg als erster Funkturm, Radio regelmäßig auch in Holland,GB,Dänemark, Rußland, Schweiz, Kanada und Argentinien. Nach Aufhebung des Verbotes begann im Oktober 1923 die "Radio-Stunde AG" auf Welle 4000 im Vox- Haus Berlin den Sendebetrieb. Ende 1923 gibt es 467 zahlende Teilnehmer. Brecht schrieb 1927/28 seine "Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks".
1924 fand die erste Funkausstellung in Berlin statt und der Rummel der großen Radiohersteller um den Radioapparat nahm seinen Lauf. Jedoch setzte eine Bastelbewegung ein, die der Industrie bis zur Nazizeit das Geschäft verdarb.1930 wurde UKW in Deutschland entwickelt, 1934 Kabelradio in Breslau getestet und 1936 verfügte die Reichsrundfunkgesellschaft über einheitliche Ü- Wagen, das bewegliche"Radio-Ohr" lieferte mit der kompletten Übertragung der Olympiade 1936 sein Debüt.
Im Krieg ist das Radio der Ort der intelektuellen Auseinandersetzung Thomas Mann und Brecht arbeiten mit vielen Anderen für die Allierten im Ätherraum. Das Radio ist das einzige Massenmedium, das nach dem Krieg in Deutschland unter allierter Kontrolle bald wieder funktioniert. Gleichzeitig demontieren die Besatzungsmächte sämtliche weitreichenden Großsender (auch in Nauen). Die deutsche Dominanz im Äther ist dahin. Jetzt breiten sich amerikanische Programmformen weltweit aus. Von wirtschaftlichen Zwängen freie Sender weisen andere, gründlicher redaktionell bearbeitete, an tatsächlich relevanten Informationen reichere und auch vielseitigere Programme auf als diejenigen Sender, die versuchen den Äther zu füllen, indem sie 24 Stunden lang den Inhalt eines halbhohen CD-Regals immer wieder abzustrahlen.