Domestizierte Imaginationen

1. Virtuelle Räume sind uns vertraut.

Ob literarische Handlungsräume, Erklärungsmodelle mikro- oder makroskopischer Räume oder ökonomische Handlungsräume. Die Ökonomie bedient sich schon lange der strukturierenden Kraft von kollektiver Imagination und darauf aufbauender Übereinkunft. Fetisch Geld und das Vertrauen auf dessen Gegenwert spielten eine große Rolle bei der Konstituierung unseres Lebensraumes mit hochspezialisierten Raumkonstellationen, mit politischen, ökonomischen und ethischen Netzwerken. Das selbstverständliche Decodieren von Bildwelten mit Hilfe perspektivischer Codes zeigt unsere Vertrautheit mit dem virtuellen Raum. Bei der Imagination relevanter virtueller Räume in Architekturdiskurs, Malerei und in Literatur kann sich der Künstler eines zuverlässigen Systems bedienen. Zugleich ist die Position des Betrachters im Erzähl- und Bildraum fixiert. Die Encodierung eines Göttlichen oder Labyrinthischen Blickes in die virtuelle Welt eines Kunstwerkes ist final. Der in Bildern und Texten präsente imaginäre Raum kann zitiert, reflektiert und in anderen Medien wie Spiel, Musik, Film oder Comic aufgerufen werden, wodurch die Beziehungsstruktur der Quelle um neue Bedeutungen bereichert wird. Daniel Libeskind spricht davon, daß Raum auf dem Blatt, auf der Projektionsfläche „entsteht.“ Perspektive sieht er als „undurchschaubare Matrix, aus der das 'Reale' entsteht und deren mäeutische Kräfte sichtbar macht.“ Peter Eisenmans algorithmische Entwürfe, Frank O‘Gehrys rechnergestützte Steinfräsen und naturwissenschaftliche Simulationen demonstrieren das weitere Vordringen bisher nur imaginärer Raumgebilde an unsere gewohnte spatiale Umwelt.

2. Sehapparate bedürfen neuer räumlicher Einbildungskraft. Architektur führt uns Landschaft, Stadt und Kosmos vor, formatiert Raum durch Achsen, inszenierte Blickpunkte und -bezüge. Sie visualisiert und definiert durch Formatierung unseres Blickes auch Handlungsbedeutungen der Menschen. Was charakterisiert unseren Blick auf kultivierte Landschaften? Lenné schuf Achsenbezüge, die durch punktuelle und axiale Eingriffe die Wahrnehmung gesamter landschaftlicher Räume transformierten. Ruinenberge und Kulissenarchitekturen als Mischwesen aus Bauwerk und Illusion entstanden, mit Erben wie Disneyland. Der Konflikt zwischen dem real wahrgenommenen Relativraum und dem unsichtbaren Absolutraum ist vor allem in der primär labyrinthisch erlebten Stadt präsent. Schlüssel zum Verständnis der Ilusionen von Las Vegas ist die Orientierung der Organisation eines städtischen Raumes auf spezifische Bewegungsmethoden. In Vegas scheint sich dadurch eine weitere Wahrnehmungsebene einzuschieben. Es entstehen neuartige Unschärfen und Bildsequenzen, zusätzlich verklärt durch den jungen Mythos dieser Raumkonstellation. Rudolf Arnheim beschäftigte sich bereits in der Anfangszeit des Radios in „Rundfunk als Hörkunst“ mit der räumlichen Imaginationskraft des Zuhörers und den künstlerischen Ausdrucksmitteln, die darauf orientieren könnten. Die unglaublichen Ereignisse bei der Ausstrahlung von Orson Welles‘ „War of the worlds“ belegen diesen Zusammenhang zwischen Fixierung und Imagination im Hörraum. Kinoarchitektur führt uns, hysterisch überhöht durch Foyer, Kasse, Bar und Wandelgänge zur Leinwand, wir rücken näher zum Sehapparat, den in diesem Falle bereits andere durch „abgeschattete“ Architekturillusionen führten. Jaques Tati zauberte dabei mit 10 Meter hohen, fahrbaren Sperrholzwolkenkratzern in „Playtime“ ein neues Paris aus einer im Bau befindlichen Satellitenstadt. Dziega Wertow beschrieb 1923 in einem Manifest voller Faszination eine Vision des Kameramanns als Stellvertreter-Auge und -Ohr des Rezipienten: „Kommt ins Leben! Hier arbeiten wir, die Meister der Sehkraft, die Organisatoren des sichtbaren Lebens, [...] ...die geschicktesten Monteure des hörbaren Lebens. Und ich erkühne mich, sie ebenfalls mit einem allgegenwärtigen Ohr und Sprachrohr auszurüsten,...“ Zugleich zerstört Wertow damit die Illusion der Rezipienten-Freiheit im virtuellen Raum. Beim klassischen Bildwerk war der Betrachter im optischen System selbst fixiert. Er konnte sich bewegen, aber er behielt stets seinen vorbestimmten Blickpunkt innerhalb des perspektivischen Bildraumes. Der Betrachter war tatsächlich „im Bild“ Das aktuelle Rendering der Cyberspace- Darstellung folgt zwar den Betrachterbewegungen, dieser ist aber physisch an den tertiärmedialen Sehapparat gekettet.

3. „Die Kunst muß dort einsetzen, wo der Defekt liegt. Wird das Sehen ausgeschaltet, so bedeutet das nicht, daß man nichts, sondern ..., daß man unendlich viel, ... sieht.“ Wir können den Blickpunkt mit Hilfe zahlreicher neuer Medien zwar ändern, sind aber auf Gedeih und Verderb an diese Seh- Technologie gekettet. W. Benjamin beschrieb in seiner „Kleinen Geschichte der Fotografie“ den Auraverlust, den die Fotografie durch zunehmende technische Perfektion erlitt. So lobte er die Unstimmigkeiten in der Bildwelt, die enstanden, weil die Modelle während der langen Belichtungszeit fixiert werden mußten. Benjamin fand, daß diese unklaren Elemente einerseits diese Bildwelten klar von der Realität unterschieden, andererseits aber auch vom Betrachter durch Imagination zu besetzende Leerstellen darstellten. Glücksfälle von interaktiver Kunst? Die domestizierten Defekte hingegen sind meist ambivalent. Da war bei Brueghel das virtuose Produzieren von minimalen Unstimmigkeiten in der räumlichen Komposition. Dreiecke wiederum zerstören den perspektivischen Bildraum von Boccionis „Kräfte einer Straße“. Gleichzeitig apellieren sie an unser Wissen um den perspektivischen Code, ohne welches ihre Attacke unentdeckt bleiben würde. Handwerklich und künstlerisch determinierte Defekte konvergieren. Aus stilistischer Absicht wird gekratzt, zerrissen und weichgezeichnet. David Carson lieferte Ungenauigkeitsmaßstäbe für Heerscharen von Designern. Diese Ästhetik fand über die Werbung auch Einzug in den filmischen Raum. Die Übertragung filmischer und grafischer Montagetechniken auf den Architekturdiskurs und schließlich auf Architektur folgt. Eine kontinuierlich eingesetzte Unschärfe ist Nebel. Er kam nicht nur als Mittel der Mimesis in Tafelbilder, Fotos, Filme und Computeranimationen. Sfumato fungiert gleichzeitig als raumordnendes Mittel der Tiefenillusion und als Mittel zur Verklärung der technischen und nicht zuletzt ökonomischen Grenzen der Bildwelt. Das konsequente Ersetzen der klassischen Unschärfen durch zeitgemäße Techniken zeigen die spanischen Elektronikkünstler von Jodi.org: Sie würfeln Bildschirm-Fragmente. Ikonen der Computer-Interface-Entwicklung tänzeln zu maschinenhaften Technoklängen. Sie vervielfachen sich, bewegen sich puzzle- oder paradeartig. Die Vorstellung wird in unregelmäßigen Abständen durchbrochen von gefakten Warnmeldungen des Computersystems. Die Fehlfunktion oder ihr Vortäuschen, das Generieren eines Ersatzelementes für fehlende Leerstellen verschafft auch der digitalen Kunst die Kratzer und Unschärfen, die ein Kunstwerk als solches zu autorisieren und im Idealfall zu auratisieren scheinen. Mit ihrem Spiel „SOD0.1“ , das auf der diesjährigen Transmediale ausgezeichnet wurde, gelingt ihnen die Übertragung dieser Ästhetik in den virtuellen Raum. „Wolffenstein“ - das aufwendig texturierte Vorbild ist nur noch akustisch zu erkennen, obwohl die Raumkonstellationen identisch sind. Vielleicht verschaffen uns open source, Netzkünstler und Hacker mit ihren Inszenierungen von Defekten und Unschärfen der Seh-Technologien endlich die Freiheit gegenüber den Mechaniken des dargestellten Raumes.

Jodi.org

erschienen: In: Ernst, Rainer W. (Hrsg): Freiraum. Berlin 2001.